Fremdkulturell geprägte PatientInnen, Eine Herausforderung für PhysiotherapeutInnen, Zeitschrift Inform Physioaustria, Nr. 2 April 2017

Geschrieben am 06.04.2017


Probleme bei Behandlungen von PatientInnen aus anderen Kulturen treten dann auf, wenn interkulturelles Wissen fehlt. Die Globalisierung hat in den letzten Jahren das Gesicht der Physiotherapie geprägt und verändert. Dadurch können potentielle Schwierigkeiten in der Kommunikation entstehen. Im folgenden Interview wird eine Situation aus der Praxis dargestelllt.

Sinnesschärfung Mag. Dr. Renate Csellich-Ruso; Izolda Pristojkovic, BSc

 

Pristojkovic: Zu meiner Behandlung kam eine Kopftuch tragende muslimische Patientin mit sehr geringen Deutschkenntnissen. Sie klagte über Probleme mit der Hals- und Lendenwirbelsäule. Trotz meiner mehrfachen Bitte den Oberkörper freizumachen, kam sie dem nicht nach. Sie erweckte den Eindruck, dass sie den Inhalt meiner Erklärungen nicht verstand. Die Patientin verstand nur lediglich, dass sie ihr Kopftuch ablegen sollte. Daher habe ich mich entschlossen, die Halswirbelsäule passiv zu behandeln. Sobald ich einen Schmerzpunkt berührte, begann sie leise vor sich hinzusprechen. Meiner Meinung nach hat sie gebetet. Obwohl ich versuchte nachzufragen, ob der Schmerzpunkt zu unangenehm ist, kam keine Antwort von ihr.

Csellich-Ruso: Da kommen viele Aspekte zusammen. Diese Frau dürfte aus einer sehr traditionellen autoritären und patriarchalisch geprägten Familie stammen. Sie hat bestimmte Erwartungen.

Dazu zählt auch das Einhalten religiöser Regeln. Dazu gehört für diese Patientin auch das Tragen des Kopftuches. Es hilft, wenn sie sicherstellen und der Patientin glaubhaft vermitteln können, dass kein Mann den Behandlungsraum betreten kann. Üblicherweise macht sie sich erst dann frei oder legt das Kopftuch erst dann ab, wenn sie sich dessen absolut sicher sein kann. Zugleich gibt es die Vorstellung der geringeren Wertigkeit einer Frau unter zahlreichen muslimisch gläubigen Menschen. Da eine Frau des Geschlechts wegen nicht kompetent sein kann, ist es für manche Männer schwierig, von einer Therapeutin behandelt zu werden. Da bedarf es klarer Regeln.

Pristojkovic: Hat ihre Verhaltensweise einen kulturellen Hintergrund?

Csellich-Ruso: Ihr Verhalten spiegelt die Vorstellungen für angemessenes Verhalten in einer Kollektivgesellschaft wieder. Diese Patienten wollen von gleichgeschlechtlichen Therapeuten behandelt werden. Das wird nicht immer möglich sein. In einem ersten hausinternen Schritt wäre es hilfreich zu klären, wie mit derartigen Vorstellungen umzugehen ist. Dies gilt es dem Patienten zu erklären und gemeinsam Wege finden, um mit dieser Situation bestmöglich umzugehen.

Außerdem geht es um im gesamten Nahen und Mittleren Osten allgemein bekannte Ehrvorstellungen. Würde unvorhergesehen ein Mann den Raum betreten, wäre dies eine Ehrverletzung. Zusätzlich ist das Freimachen der Lendenwirbelsäule und auch das berührt werden ein Eingriff in den Intimbereich und daher mit Scham verbunden.

Pristojkovic: Warum hatte sie geringe Deutschkenntnisse?

Csellich-Ruso: Frauen aus traditionellen Familien dürfen oft nur in männlicher Begleitung außer Haus. Da diese Frauen vorwiegend nur mit Frauen des großfamiliären Netzwerks oder Frauen aus der eigenen Volksgruppe Kontakt haben, können sie kaum Deutsch. Zugleich ist das auch eine Frage der Macht des Mannes über die Frau.

Pristojkovic: Aus welchem Grund hat sie nur gemurmelt?

Csellich-Ruso: Sie meinten, die Patientin hätte gebetet. Also möglicherweise aus religiösen Gründen gemurmelt. Ihre Annahme ist vermutlich richtig.

Pristojkovic: Durch meine Bemühungen ihr die wichtigsten Übungen zu erklären, welche ich mit Bildern dargestellt und vorgemacht habe, hatte ich den Eindruck, dass sie nicht aktiv mitmachen möchte.

Csellich-Ruso: Die Patienten haben andere Vorstellungen und Erklärungsversuche für das Entstehen von Krankheiten. Die Patientin hatte auch andere Erwartungen an sie als Therapeutin. Sie vertraut darauf, dass sie wissen, was ihr fehlt und darauf, dass sie sie rasch gesund machen. Sie selbst kann nichts dazu tun und macht auch deshalb nicht mit.

Pristojkovic: Das Kommunizieren mit solchen Patienten kann sich als schwer erweisen. Warum?

Csellich-Ruso: Für viele ist Deutsch eine sehr schwierige Sprache. Wir haben andere Laute aber vor allem eine andere Grammatik. Auch ihre Sprache als Therapeutin kann für Menschen mit einfachem soziokulturellem Hintergrund eine Herausforderung sein. Das hängt auch vom eigenen Sprachgebrauch und Sprachstil ab. Hilfreich für PhysiotherapeutInnen ist es ganz bewusst kurze Sätze zu bilden und auf Fachbegriffe wie z. B. Rotation zu verzichten.

Pristojkovic: Obwohl ich den Migrationshintergrund sowie Religion dieser Patienten berücksichtige, frage ich mich trotzdem, wie die interkulturelle Kompetenz in Situation wie dieser, gefördert werden können.

Csellich-Ruso: Um all diese Verhaltensweisen nachzuvollziehen, braucht es Hintergrundwissen über Gesellschaftssysteme-, Glaubensvorstellungen, Ehre, Scham, über schicht-, rollen und geschlechtsspezifische Vorstellungen bis hin zu Stolpersteine beim Kommunizieren uvm. Wir sprechen dabei von inter- oder transkultureller Kompetenz, die es zu entwickeln gilt.

 

Buchtipps:

Transkulturell Kompetent, Erwachsenenbildung; Verlag E. Dorner 2015, 188 Seiten,

ISBN 978-3-7055-1918-3, € 28,00

 

Mag. Dr. Renate Csellich-Ruso studierte Kommunikationspädagogik an der Uni Wien und lehrt an Fachhochschulen für Gesundheitsberufe, an Pädagogischen Hochschulen und an Universitäten u. a. kommunikative, soziale, inter- bzw. transkulturelle Kompetenz. Im Gesundheitswesen hält sie für unterschiedliche öffentliche und private Auftraggeber fachspezifische Kommunikationsseminare.

www.cr-communication.at